Russland will mit einer Superwaffe den Amerikanern die Stirn bieten. Die X-90 (sprich: Cha-90) ist die ultimative Antwort des Kreml auf die nationale Raketenabwehr Washingtons. Im Westen firmiert sie unter dem eher harmlos klingenden NATO-Code „AS-19 Koala“. Die angeblich erste manövrierfähige Überschall-Flügelrakete der Welt, deren Aussehen und taktisch-technische Daten noch striktes Staatsgeheimnis sind, soll nach bisherigen Vorstellungen 2010 in Dienst gestellt werden. Sie wird vom strategischen Bomber Tu-160M abgeschossen. (Das M steht für modifiziert und besagt, dass die Flügelfläche der Maschine vergrößert wurde) Nach den Worten von Präsident Wladimir Putin ist die X-90 in der Lage, alle „bestehenden und auch künftigen Raketenabwehrsysteme“ der Welt zu überwinden und „mit großer Präzision“ Ziele auch auf anderen Kontinenten zu vernichten. Die neue Wunderwaffe, von der ein Experimentalmuster im Februar 2004 bei der Kommandostabsübung „Sicherheit-2004“ vor den Augen Putins mit einer RS-18 erfolgreich getestet wurde, werde „in nicht ferner Zukunft“ den Strategischen Raketentruppen zur Verfügung stehen
Es begann 1971
Die Geschichte der X-90 beginnt im Jahr 1971. Damals wandten sich Konstrukteure mit dem Vorschlag an die Regierung der UdSSR, kleine strategische Flügelraketen zu bauen, die in der Lage sein würden, in niedriger Höhe über der Erde zu operieren und sich dabei dem jeweiligen Geländeprofil anzupassen. Der Vorschlag fand jedoch keine Beachtung bei der Führung. Als aber die USA 1975 begannen, ihre „Cruise Missile“- Marschflugkörper zu entwickeln, wurde die Idee wieder aufgegriffen. Die Raketenspezialisten erhielten den Auftrag, mit den Entwicklungsarbeiten schon Mitte 1976 zu beginnen und sie Mitte 1982 abzuschließen. Bereits am 31. Dezember 1983 sollte die Rakete in die Bewaffnung aufgenommen werden. Eine der Hauptvorgaben bestand dabei darin, der Rakete in der Perspektive Überschallgeschwindigkeit zu verleihen. Ende der 70er Jahre erreichte die X-90 Mach 2,5 bis 3 und in den 80er Jahren bereits Mach 3 bis 4. Aufmerksame Besucher des Moskauer Luft- und Raumfahrtsalons (MAKS) konnten 1997 am Pavillon der russischen Kosmosschmiede „Raduga“ (alle „Raduga“-Raketen haben übrigens ein X als Serienbezeichnung, weil die ersten Geschosse ein kreuzförmiges Leitwerk hatten. Die Zahl gibt die Erzeugnisnummer an) den experimentellen Überschallflugapparat – Giperswukowoj Letatelnyj Apparat – GLA – bestaunen. Dieser Apparat, von dem damals eine sehr grobe Zeichnung (siehe Abbildung) gezeigt wurde, spielte die Rolle eines Prototyps bei der Entwicklung der neuen Flügelrakete. Diese sollte zwei Gefechtsköpfe mit individueller Steuerung haben, die Ziele bis zu 100 Kilometer vom Punkt der Abtrennung entfernt vernichten können. Als Träger sollten die bereits erwähnten umgebauten Tu-160M dienen. Der GLA X-90 von damals etwa 12 Metern Länge – heute soll die Rakete nur noch acht bis neun Meter lang sein – war mit einem luftatmenden Überschalltriebwerk ausgerüstet. Nach dem Ausklinken vom Trägerflugzeug entfalteten sich an dem Apparat einfahrbare dreieckige Tragflächen von 7 Metern Länge sowie ein Seitenleitwerk. Danach wurde ein Festtreibstoffmotor gezündet, der den Apparat auf Überschallgeschwindigkeit beschleunigte. Danach trat ein Marschtriebwerk in Aktion, der eine Reisegeschwindigkeit von 4 bis 5 Mach ermöglichte. Das Ausklinken geschah in Höhen zwischen 7000 und 20 000 Metern. Der Aktionsradius betrug 3500 Kilometer. Aus Sicht des Kremls verfügt außer Russland kein anderer Staat der Welt über Überschallflügelraketen. In den USA sei aus Kostengründen auf entsprechende Entwicklungen verzichtet. Man habe sich auf Geschwindigkeiten unterhalb des Mach-Bereiches beschränkt. Auch in Russland wurde nicht kontiunierlich an solchen Raketen gearbeitet. Die Unterbrechung dauerte aber nur kurze Zeit. Bereits im Juli 2001 wurde in der russischen Presse breit über den Start einer „Topol“-Rakete berichtet, bei dem ein für Ballistiker ungewöhnliches Verhalten des Gefechtskopfes auffiel. Damals wurde der Verdacht geäußert, dass er mit Triebwerken ausgerüstet sei, die es ihm ermöglichten, in der Atmosphäre mit Überschallgeschwindigkeit zu manövrieren.Premiere der experimentellen X-90
Eine echte Sensation war hingegen die bereits erwähnte Kommandostabsübung, die erstmals nach 1982 wieder auf dem gesamten Territorium Russlands stattfand. Während dieser Manöver wurden zwei Ballistische Interkontinentalraketen gestartet – eine „Topol-M“ und eine RS-18. Wie sich später herausstellte, befand sich an der Spitze der RS-18 ein gewisser Experimentalapparat. Er flog in den Weltraum und tauchte dann erneut in die Atmosphäre ein. Das Manöver schien beim derzeitigen Stand der Technik undenkbar zu sein. Im Moment des Eintritts des atomaren Gefechtskopfes in die dichten Schichten der Atmosphäre betrug seine Geschwindigkeit 5000 Meter pro Sekunde. Er verfügte deshalb über einen speziellen Schutz vor Überbelastung und Überhitzung. Der Experimentierapparat war offenbar nicht langsamer. Er änderte nicht nur mit Leichtigkeit seine Flugrichtung, sondern wurde dabei auch nicht zerstört. In der Aerodynamik gibt es bekanntlich keine Wunder: Der US-Shuttle und der sowjetische „Buran“-Pendler, die modernen Jagdflugzeuge sowie die Flügelraketen haben staatenübergreifend gemeinsame Züge. Offenbar ist auch der neue Überschall-Experimentalapparat, der während der Stabsübung getestet wurde, dem X-90 sehr ähnlich. Bis dato ist sein Aussehen aber, wie schon eingangs betont, ein Staatsgeheimnis. „Der Apparat kann regionale Raketenabwehrsysteme umgehen“, sagte der stellvertretende russische Generalstabschef Generaloberst Juri Balujewski auf einer Pressekonferenz nach der Übung. „Er kann gewisse Mittel umgehen, die ihn kontrollieren könnten, und im weiten Umfang Aufgaben bei der Überwindung von Raketenabwehrsystemen lösen, darunter auch künftiger solcher Systeme.“ Im Unterschied zu herkömmlichen ballistischen Gefechtsköpfen könne dieses Projektil „im allerletzten Moment sowohl selbstständig nach einem vorher eingegebenen Programm die Flugbahn ändern als auch noch über dem Territorium des Gegners auf ein neues Ziel umprogrammiert werden“. Anstelle eines herkömmlichen Gefechtskopfes, der auf einer unveränderlichen Bahn fliegt und der im Prinzip von einer Abwehrrakete abgefangen werden kann, befand sich also auf der RS-18 ein Projektil, das Flugrichtung und -höhe verändern konnte und somit in der Lage ist, jegliches Raketenabwehrsystem, so auch das der USA, zu „umfliegen“. Auf die Frage von Journalisten, wie nach seiner Ansicht die Vereinigten Staaten auf diese Neuigkeit regieren würden, sagte Putin, „die USA entwickeln selbst aktiv ihre Waffen“. Der Präsident erinnerte daran, dass Washington vor kurzem den Raketenabwehrvertrag (ABM) gekündigt und „wie immer gesagt habe, dass dies nicht gegen die Russische Föderation gerichtet sei“. Die Vervollkommung bestehender und die Entwicklung neuer Waffensysteme Russlands sei ebenfalls nicht gegen die Vereinigten Staaten gerichtet, versicherte der Präsident und fügte hinzu: „Gemeinsam mit anderen Staaten trägt Russland die Verantwortung für die globale Stabilität und für die Sicherheit auf dem gewaltigen eurasischen Kontinent.“
(Veröffentlich in der „Fliegerrevue“)