Berlin – Russlands führende Raumfahrtschmiede „Energija“ schlägt Alarm: Aus Geld- und Facharbeitermangel ist sie nur noch bedingt in der Lage, ihren Aufgaben bei der Produktion von Raumschiffen in Menge und Qualität nachzukommen. Denn schon ab 2009 soll die Stammbesatzung der Internationalen Raumstation ISS auf sechs Astronauten verdoppelt werden. Das erfordert auch eine hundertprozentige Steigerung der Fertigung von „Sojus“-Kapseln.
Das bringt den Kosmoskonzern RKK „Energija“ in arge Bedrängnis. Das Unternehmen vor den Toren Moskaus, das einst vom legendären Chefkonstrukteur Sergej Koroljow (1907-1966) begründet wurde, muss künftig mindestens vier „Sojus“-Raumschiffe statt der bisher zwei jährlich bauen. Möglich wird das derzeit nur, weil die Amerikaner für ihre Mitflüge und den Frachttransport vorerst bis 2011 schon 719 Millionen Dollar überwiesen haben. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, kann auch das russische ISS-Segment nicht wie geplant 2010 fertiggestellt werden, weil 330 Millionen Euro dafür fehlen, wie „Energija“-Chef Anatoli Lopota beklagt.
Zudem ist der Maschinenpark des Unternehmens hoffnungslos veraltet. Es ist ein offenes Geheimnis, dass bis zu 80 Prozent der Ausrüstungen der Branche schon längst durch neue ersetzt werden müssten. Immer wieder werden zwar Modernisierungsprogramme aufgelegt, doch umgesetzt wurden sie bislang nicht. Noch schlechter ist es um das Personal bestellt. Bei „Energija“ gibt es kaum noch hochqualifizierte Facharbeiter. Und die Jugend denkt gar nicht daran, in die schlecht zahlenden Staatsbetriebe zu gehen. Sie zieht es in die Banken und den Handel, wo viel höhere Löhne winken.
Die Folge ist, dass sich die Produktionsmängel häufen. Die beiden letzten „Sojus TMA“-Raumschiffe mit den Seriennummern zehn und elf sind ballistisch, das heißt ungesteuert und damit härter als normal wieder zur Erde zurückgekehrt. Dabei wurden die Besatzungen kurzzeitig mit dem Acht- bis Neunfachen ihres Körpergewichts in die Konturensessel gepresst. Die Ursache war im ersten Fall ein Kabelschaden am Steuerpult und im zweiten – nach den bisherigen Erkenntnissen – ein Problem mit den Pyrobolzen. Sie sprengen die Gerätesektion vor dem Wiedereintritt in die Atmosphäre von der Landekapsel ab. Die genaue Ursache wird noch von den Experten untersucht. Doch die Amerikaner haben schon klar gemacht, dass sie ihre Astronauten künftig nur noch mit den Russen mitfliegen lassen, wenn die Kapseln hunderprozentig sicher sind.
Um sich zu vergewissern, dass die Pyrobolzen am Raumschiff „Sojus TMA-12“ funktionieren, das derzeit als „Rettungsboot“ an der ISS vor Anker liegt, sollen es die russischen Kosmonauten Sergej Wolkow und Oleg Kononenko gründlich inspizieren. Anfang Juli steigen sie dazu in den freien Raum aus, bauen die Verkleidung ab und kontrollieren die Kabel, die zu den Bolzen führen.
Eigentlich wollen die Russen schon lange ein neues bemanntes Raumschiff bauen, um die 40 Jahre alten „Sojus“-Kapseln endlich in Rente zu schicken. Der potenzielle Nachfolger, ein sechssitziges Raumschiff namens „Clipper“, war 2005 der Star auf dem Moskauer Luft- und Raumfahrtsalon (MAKS). Doch dann wurde das Projekt auf Eis gelegt – nicht zuletzt, weil sich die Europäische Weltraumorganisation ESA weigerte, dafür nur als Geldgeber zu fungieren. Inzwischen planen die Russen eine neue, nunmehr fünfte Generation der „Sojus“-Kapseln. Mit ihnen soll die Zeit bis zum „Clipper“ überbrückt werden, den man noch nicht abgeschrieben hat.
Auch bei der neuen „Sojus“-Version ist Russland auf die Kooperation mit den Europäern angewiesen. ESA-Chef Jean-Jacques Dordain ist dazu auch prinzipiell bereit. Bedingung sei aber eine gleichberechtigte Beteiligung an dem Projekt – und nicht nur als Sponsor, sagte er. Die Entscheidung darüber liege beim ESA-Ministerrat, der im Herbst tage. Allerdings wäre auch eine solche Kooperation „nur eine Etappe“ auf dem Weg Europas zu einem eigenen autonomen bemannten Raumfahrtsystem, fügte Dordain mit Blick auf die jüngst vorgestellte Industriestudie „ATV-Evolution“ hinzu. Dabei handelt es sich um eine bemannte Weiterentwicklung des europäischen automatischen Frachtraumschiffes ATV, die 2017 einsatzbereit sein könnte, wenn die Politik das will.
(Veröffentlicht am 27.Juni 2008)