Moskau, 10. März 2024 – Das offizielle Russland hat am Samstag ungewohnt verhalten den 90. Geburtstag seines großen Sohns Juri Gagarin (1934-1968) begangen. Im Gegensatz zu früher gab es keine zentrale Würdigung des ersten Kosmonauten der Welt etwa im Großen Kremlpalast in Moskau in Anwesenheit der Staatsspitze. Auch Präsident Putin hielt sich zum Thema Gagarin überraschenderweise zurück. Sein sonst übliches Grußschreiben blieb zumindest in den Medien diesmal aus. Dabei hatte er erst am 6. März der ersten Kosmonautin der Welt, Walentina Tereschkowa, zu deren 87. Geburtstag publikumswirksam gratuliert. Es darf also gerätselt werden, woran das liegt. Womöglich ist der derzeitige lamentable Zustand der einstigen Vorzeigebranche, die durch Gagarin so genial verkörpert wurde, der Grund.
Schon in Putins großer Rede zur Lage der Nation vom 29. Februar, in der er mit Blick auf die Präsidentenwahl vom 15. bis 17. März sein detailliertes militärisches, ökonomisches und soziales Programm für seine nächste Amtszeit darlegte, fehlte Gagarins Name. Zur Raumfahrt kündigte er lediglich an, dass man 116 Milliarden Rubel in die Entwicklung der Satellitenproduktion stecken werde. Damit berührte er einen höchst neuralgischen Punkt. Denn das Land verfügt derzeit nur über die theoretische Möglichkeit, 40 Satelliten pro Jahr zu bauen, schafft aber nicht einmal die Hälfte davon. Mit den versprochenen Milliarden soll jetzt eine Serienproduktion angekurbelt werden, so dass man international halbwegs aufschließen kann und bis 2030 wenigstens auf einen Satelliten pro Tag kommt.
Es gab diesmal zum Gagarin-Jubiläum aber eine besonders große Zahl kleiner und höchst vielfältiger Veranstaltungen in dem ganzen riesigen Land. Die Palette reichte dabei von einer Sonderausstellung im Moskauer Weltraummuseum, in der erstmals eine Uniform des Kosmonauten als Oberst der Sowjetarmee gezeigt wird, bis zu Festkonzerten, Filmvorführungen und einer Motorrad-Sternfahrt im Fernen Osten zu Orten, die mit dem Namen des Kosmos-Pioniers verbunden sind. Sicher nicht per Zufall ragte vom 1. bis 7. März ein „Weltjugendfestival“ im rund 1.200 Kilometer von der Hauptstadt entfernten Krasnodarer Kraj an der Schwarzmeerküste heraus. Hier machten vor rund 20.000 Teilnehmern, darunter die Hälfte aus dem „befreundeten“ Ausland, auch führende russische Politiker Reklame für die Politik von Wladimir Putin.
Wenn es Gagarin vergönnt gewesen wäre, an seinem Ehrentag auf der Erde Mäuschen zu spielen, hätte er ein Déjà-vu-Erlebnis der Extraklasse. Denn er fände im russischen Raketenarsenal mit dem Mittelklasseträger Sojus und der schweren Proton zwei kosmische Arbeitspferde vor, die er noch vor seinem frühen Tod 1968 persönlich kennengelernt hat. Sie tun noch heute ihren Dienst – die Sojus im nordrussischen Plessezk, in Wostotschny im Amur-Gebiet sowie in Baikonur, das heute im unabhängigen Kasachstan, also im Ausland, liegt. Die Proton können nur hier starten wie auch die bemannten Sojus-Raumschiffe, für die es nur noch eine einzige Rampe gibt, nachdem Gagarins Startplatz dort ausrangiert worden ist und in ein Museum umgewandelt werden sollte, für das allerdings noch das Geld fehlt. Sollte also mit der amtierenden Rampe etwas Unerwartetes geschehen, ist Russlands bemannte Raumfahrt quasi enthauptet, lautet somit die traurige Botschaft für Gagarin. Beide Systeme sind nach Aussage von Raumfahrtchef Juri Borissow 2023 lediglich 19 Mal zum Einsatz gekommen. Man habe zwar „Träger, aber nichts, was man raufpacken kann“, klagte der Manager zur Begründung und verwies auf das westliche Embargo nach dem Überfall auf die Ukraine. Dadurch sei das System der kosmischen Dienstleistungen quasi zusammengebrochen, was zu desaströsen Einnahmeausfällen führte.
Der Ersatz für beide überalterten Systeme in Gestalt des neuen bemannten Raumschiffs Orjol plus Träger sowie des neuen Angara-Lastenesels, der in einer leichten, mittleren und schweren Variante gebaut wird, steht derzeit in Wostotschny noch nicht zur Verfügung, so dass Baikonur unbedingt zumindest bis zum Ende der russischen ISS-Beteiligung durchhalten muss. Das erste Modul der neuen nationalen Russischen Orbitalstation ROS, die die Erde auf einer Polarbahn umkreisen wird, soll erst 2027 gestartet werden. Bemannte Sojus-Raumschiffe können von Wostotschny nicht zur Internationalen Raumstation ISS aufsteigen, weil die Flugbahn unmittelbar nach dem Start über den Pazifik führt und im Fall der Fälle kein adäquates Rettungssystem verfügbar ist.
Angesichts der heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und speziell den USA auf der Erde kommen von den russischen Kosmonauten sicher nicht von ungefähr beschwichtigende Töne. So betonte Sergej Prokopjew, natürlich seien seine Kollegen sowie die Astronauten der anderen Länder in der ISS über die internationalen Ereignisse auf der Erde informiert. Sie zögen es aber vor, diese nicht untereinander zu diskutieren, um nicht in Streit zu geraten. „Aus politischen Gründen haben wir uns nie gestritten. Wir verstehen, dass wir darüber endlos sprechen und streiten könnten. Das Weltbild ändert sich dadurch nicht, aber die Beziehungen zwischen den Menschen. Deshalb waren wir bemüht, solche scharfen Momente zu vermeiden“, sagte er. Aus der ISS erscheine die Welt ohne Grenzen und „nicht aus politischen Gründen geteilt zu sein“.
Staunen würde Gagarin sicher auch darüber, dass die wahre Ursache für seinen tödlichen Absturz mit seinem Fluglehrer Wladimir Serjogin am 27. März 1968 immer noch nicht mitgeteilt wurde. Im Fernsehen wurde zwar die dicke Akte darüber schon gezeigt, das offizielle Ergebnis der Untersuchungskommission ist aber immer noch geheim. Präsident Putin wurde mit dem Problem schon mehrfach konfrontiert, darunter auch persönlich durch den ersten „Weltraumspaziergänger“ Alexej Leonow. Er lehnte aber eine diesbezügliche Entscheidung ab. So gehen also die Spekulationen weiter, zu denen auch Nikolai Sergejew und ich mit dem Buch „Gagarin – er könnte noch leben“ von 2016 beigetragen haben. Vielleicht lüften die Russen ja in zehn Jahren, zum 100. Geburtstag von Gagarin, das Geheimnis.