Berlin – Keiner der zehn deutschen Raumfahrer war so lange im All wie Thomas Reiter. Fast ein ganzes Jahr – exakt 350 Tage, 5 Stunden, 35 Minuten und 1 Sekunde – hat der wohl prominenteste deutsche Astronaut in der Schwerelosigkeit gearbeitet und geforscht: 179 Tage um die Jahreswende 1995/96 im russischen MIR-Labor und 171 Tage 2006 in der Internationalen Raumstation ISS. Er rangiert damit auf Platz 26 der Langzeitflieger-Hitliste, knapp hinter den US-Astronauten Peggy Whitson (25.) und Michael Foale (21.). Alle anderen Plätze davor gehören allerdings unangefochten den Russen.Ende September 2007 ist der gebürtige Frankfurter und Vater zweier Jungen im Schulalter aus dem europäischen Astronauten-Korps ausgeschieden, ohne jedoch der Raumfahrt untreu zu werden. Als Vorstandsmitglied des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) verantwortet er jetzt den Bereich Raumfahrtforschung und -entwicklung. Für diesen Posten prädestinieren ihn nicht nur sein analytischer Geist, sondern auch seine exzellente Kenntnis der europäischen, russischen und amerikanischen Raumfahrttechnik, seine reichen praktischen Weltraumerfahrungen, sein großes internationales Renommee und nicht zuletzt seine eloquente Art.
Fast neun Jahre musste der Absolvent der Bundeswehruniversität in München und Testpilot warten, bis sich sein Traum erfüllte, ins All zu fliegen. Am 3. September 1995 startete er im Auftrag der Europäischen Weltraumagentur ESA mit einer russischen „Sojus“-Kapsel zur MIR. Damit begann eine beispiellose kosmische Karriere, die von zahllosen Bestleistungen und Premieren gekennzeichnet ist. Den Auftakt gab der „Landeführerschein“, den die Russen Reiter als Zeichen ihrer Wertschätzung schon vor dem Start als erstem Ausländer für ihr Raumschiff erteilten.
Eigentlich sollte die Mission „Euromir ´95“ nur 135 Tage dauern. Doch dann verlängerten sie die Russen um 45 Tage. Dadurch erhielt der Deutsche die willkommene Gelegenheit, sich weiter als Bordingenieur auszuzeichnen und zusätzliche wissenschaftliche Experimente durchzuführen. Ganz nebenbei avancierte er zum ersten westlichen Rekordlangzeitflieger. Zudem durfte er als erster ESA-Astronaut in den freien Raum aussteigen. Bei zwei „Weltraumspaziergängen“ montierte er zusammen mit russischen Kosmonauten Geräte an der MIR-Außenhaut und barg Muster von Experimenten.
Zehn Jahre später, am 4. Juli 2006, machte sich Reiter erneut mit einem ESA-Ticket auf den Weg – diesmal allerdings an Bord eines US-Shuttles zur ISS. Mit seinem erneuten Langzeitflug, der ihm auch einen dritten Ausstieg bescherte, katapultierte er sich endgültig in die Raumfahrerelite. Entsprechend wurde er nach einer Rückkehr zwei Tage vor Weihnachten gefeiert. Noch bevor er aber – wie Ulf Merbold – an einen möglichen dritten Flug denken konnte, erreichte ihn der Ruf von DLR-Chef Johann-Dietrich Wörner.
Die Entscheidung, aus dem Raumschiff in die Administration zu wechseln, sei ihm „schwer gefallen“, sagte Reiter der Nachrichtenagentur ddp wenige Tage vor seinem 50. Geburtstag am 23. Mai. Denn das habe ja das Ende einer „wichtigen Phase“ seines Lebens bedeutet. Seine beiden Langzeitmissionen betrachte er als „großes Glück“. ein Hauptziel in seiner neuen Funktion sei, daran mitzuwirken, „die Raumfahrt voranzubringen“. Das Umfeld dafür sei günstig, die Begeisterung in der Bevölkerung wachse nach den jüngsten Erfolgen mit dem europäischen Wissenschaftslabor „Columbus“ und dem Frachtraumschiff ATV. Auch stelle Deutschland in letzter Zeit mehr Geld zur Verfügung. Dennoch wünsche er sich von der Politik „mehr Mut, neue Wege zu beschreiten“, betonte Reiter nicht zuletzt mit Blick auf die anstehende Entscheidung Europas über ein autonomes bemanntes Raumfahrtsystem.
(veröffentlicht am 20. 5. 2008)