Koroljow, 29. Mai 2014 — Seit sechs Jahren ist mit Alexander Gerst wieder ein Deutscher in der Internationalen Raumstation ISS. Der ESA-Astronaut ist zusammen mit dem Russen Maxim Surajew und dem Amerikaner Reid Wiseman am Donnerstagmorgen in der Station eingetroffen. Sie wurden von Alexander Skworzow, Oleg Artemjew (beide Russland) und Steve Swanson (USA) herzlich begrüßt, die bislang allein in der Station gearbeitet haben. Damit hat die 40. Stammbesatzung ihre Sollstärke von sechs Mitgliedern erreicht, teilte das Flugleitzentrum (ZUP) in Koroljow bei Moskau mit.
Nach knapp sechsstündigem Flug hatte das Trio um 3.44 Uhr deutscher Zeit –vier Minuten früher als geplant – problemlos mit seinem Raumschiff “Sojus TMA-13M” angedockt. Gut zwei Stunden später stiegen die Neuankömmlinge in die Station um.
Gerst, Surajew und Wiseman waren am Mittwochabend mit dem Segen eines orthodoxen Priesters pünktlich um 21.57 Uhr vom Kosmodrom Baikonur in Kasachstan zu ihrer Halbjahresmission gestartet. Damit haben sich Befürchtungen nicht bewahrheitet, dass sich die Sanktionen der USA gegen die Russen wegen der Ukraine-Krise auch negativ auf das ISS-Programm auswirken könnten. Der Deutsche und der Amerikaner sind Weltraumneulinge, ihr russischer Kollege war bereits 2009/10 einmal 169 Tage auf der Umlaufbahn.
Dem perfekten Nachtstart vom Startplatz Nr. 1, der Gagarin-Rampe, wohnten neben den Chefs von Roskosmos, ESA und DLR, Oleg Ostapenko, Jean-Jacques Dordain und Johann-Dietrich Wörner, NASA-Vize Bill Gestenmaier sowie den Familienmitgliedern der Astronauten auch die beiden ersten Deutschen im All, Sigmund Jähn und Ulf Merbold, bei.
1978 war Jähn von der Rampe, von der Juri Gagarin am 12. April 1961 mit seinem “Wostok”-Raumschiff als erster Mensch in den Weltraum aufbrach,zur sowjetischen Raumstation “Salut 6″gestartet. 16 Jahre später folgte ihm Merbold bei seiner MIR-Mission, nachdem er zuvor bereits zweimal mit einem US-Shuttle (1983 und 1992) unterwegs war.
DLR-Chef Wörner sagte auf NASA-TV, der Start sei eine “exzellente Show”gewesen, die ihn “tief beeindruckt” habe. Obwohl Gerst für die ESA unterwegs sei, fühle er sich für ihn verantwortlich. Wörner bezeichnete die russisch-amerikanisch-deutsche Zusammenarbeit in der ISS als Beispiel für die Kooperation auf der Erde.
ESA-Generaldirektor Dordain nannte die ISS ein “fantastisches Labor” für die Wissenschaft und die internationale Zusammenarbeit, das der ganzen Menschheit als Modell dienen könne. Er erinnerte daran, dass 6.000 Erdenbürger auf allen Kontinenten mit ihrer Arbeit dafür sorgen, dass die sechs Astronauten in der ISS ihre Aufgaben erfüllen können.
Gerst ist nach Thomas Reiter (2006) und Hans Schlegel (2008) der dritte Deutsche in der ISS. Die 166-Tage-Reise steht unter dem Motto “Blue Dot” (“Der blaue Punkt”). Es symbolisiert das Bild der Erde aus dem fernen Weltraum und soll zeigen, dass die Raumfahrt dem Wohl und Schutz unseres Planeten dient. Der 38 Jahre alte promovierte Geophysiker wird in den kommenden 166 Tagen über 100 Experimente durchführen, von denen viele unser künftiges Leben positiv beeinflussen werden, wie er hofft. 35 davon kommen aus Europa, vor allem aus dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR).
Dabei geht es um neue Werkstoffe, Emulsionen und Plasmen sowie um humanphysiologische, physikalische, astronomische, technologische und andere Themen. So soll Gerst einen neuen, einzigartigen Hightech-Schmelzofen, den Elektromagnetischen Levitator (EML), auf der ISS installieren, in Betrieb nehmen und bis zu sechs Proben schmelzen. In dem Kooperationsprojekt von DLR und ESA schweben die Proben frei im Raum und werden durch ein elektromagnetisches Feld in Position gehalten.
Mit dem Ofen wollen Wissenschaftler unter anderem des DLR-Instituts für Materialphysik im Weltraum, deutscher Universitäten, des Forschungsinstituts ACCESS in Aachen und der Metallindustrie neuartige Legierungen testen, die einmal im Flugzeug- und Automobilbau eine große Rolle spielen könnten. Der Ofen kommt mit dem fünften und letzten europäischen Weltraumfrachter ATV “Georges Lemaitre” im August zur ISS. Auch ein Ausstieg in den freien Weltraum sowie der Empfang von mehreren russischen und amerikanischen Frachtraumschiffen stehen auf dem Arbeitsplan des Schwaben.
Gerst ist der elfte Deutsche im All, der nach Thomas Reiter zweite deutsche Langzeitflieger und der sechste Deutsche, der mit einem russischen “Sojus”-Raumschiff aufsteigt. Sein Start selbst ist der 120. bemannte Start einer “Sojus”-Rakete mit einer gleichnamigen Raumkapsel. Der erste fand 1967 statt und endete für den sowjetischen Kosmonauten Wladimir Komarow tödlich, weil das Fallschirmsystem der technisch noch nicht ausgereiften Kapsel bei der Landung versagte. Die Sowjetführung unter Nikita Chruschtschow hatte jedoch auf dem Start bestanden, um den 50. Jahrestag der Oktoberrevolution mit einem neuen spektakulären Weltraumerfolg zu feiern. Gagarin selbst, der als Double von Komarow fungierte, hatte in einer mutigen Intervention von Chruschtschow gefordert, den Start zu verschieben, wurde jedoch nicht gehört.
© Gerhard Kowalski