Do. Okt 31st, 2024

Von Gerhard Kowalski

Credit: G.Kowalski

Mit Blick auf den runden Geburtstag Juri Gagarins (1934-68) drängt sich mir die Frage auf, wie die russische Raumfahrt wohl heute aussähe, wenn der erste Kosmonaut der Welt noch lebte. Eine exakte Antwort darauf ist natürlich nicht möglich. Aber eines scheint mir sicher: Sie würde auf keinen Fall ein so trauriges Bild abgeben, wie das derzeit der Fall ist.

Denn allein schon die physische Präsenz des Nationalhelden als hochdekorierter und inzwischen pensionierter General mit seinem unbeirrt kritischem Geist hätte wohl verhindert, dass die einstige Vorzeigebrache nach dem Zerfall der UdSSR so sträflich vernachlässigt wurde und deshalb in eine so tiefe Krise abrutschen konnte.

Jetzt will man durch die Vereinigung aller Unternehmen der Raumfahrtindustrie in einer Korporation die massiven Struktur- und Qualitätsprobleme in den Griff bekommen. Experten bezweifeln das, denn für sie ist der Faktor Mensch das Entscheidende. Aber noch nie war das Prestige der Raumfahrt so niedrig wie heute. Die junge Generation sucht sich ihre Vorbilder nicht mehr wie früher unter den Kosmonauten, sondern eher unter den Bankern und Popstars.

Die einstige Vorzeigebranche zahlt sehr wenig und hat zudem ihre Produktionspalette in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert. Sie baut weiter dieselben Raketen und „Sojus“-Raumschiffe, in denen selbst Gagarin noch für einen zweiten Flug trainierte. Deshalb sehen die ambitionierten Absolventen der Universitäten und Hochschulen hier keine Zukunft.

Gagarin war schon zu Sowjetzeiten ein unbequemer Zeitgenosse. Er schreckte nicht einmal  davor zurück, in Briefen an Partei- und Regierungschef Leonid Breshnew persönlich Missstände anzuprangern. Deshalb war er auch in gewissen Funktionärskreisen nicht besonders gelitten, und so kam manchem sein früher und tragischer Tod bei einem simplen Übungsflug am 27. März 1968 nicht ungelegen. Er enthob die Obrigkeit zudem der Aufgabe, für ihn einen angemessenen Posten zu finden, nachdem er am 17. Februar sein Studium an der „Shukowski“-Ingenieurakademie der Luftstreitkräfte mit Auszeichnung abgeschlossen hatte.

Die staatlich verordnete Geheimniskrämerei um den Flug und Tod Gagarins war geradezu exemplarisch für das Land, wie wir wissen, nachdem sich die Geheimarchive schrittweise öffneten. Begonnen hatte die Kette des Lügens, Verdrehens und Verschweigens mit der Weisung der Partei, der Internationalen Aeronautischen Föderation (IAF) und der Weltöffentlichkeit die meisten Daten der historischen Mission vorzuenthalten.

Auch das Ergebnis der Untersuchung der Absturzursache Gagarins und seines Instrukteurs Wladimir Serjogin blieb bewusst jahrzehntelang unter Verschluss. So konnte man jene hochrangigen Militärs schützen, die für die haarsträubenden Sicherheitsmängel und unglaubliche Schlamperei verantwortlich waren, die schließlich zu der Katastrophe führten.

Es wäre interessant zu wissen, ob der Kreml diese Linie durchgehalten hätte, wenn Gagarin nicht so früh gestorben wäre. Ich hätte ihm zugetraut, hier schon eher für jene Glasnost zu sorgen, die Gorbatschow dann in den 80er Jahren einführte und der wir verdanken, dass viele Fakten endlich auf den Tisch kamen.

Nach fast 40-jähriger Beschäftigung mit dem Thema Gagarin hatte ich um die Jahrtausendwende geglaubt, alle wesentlichen Geheimnisse um den Kosmonauten zu kennen. Doch weit gefehlt: Am Vorabend des 50. Jahrestages seines Fluges 2011 veröffentlichte die damalige Putin-Regierung die – nunmehr angeblich letzten – 200 Staatsgeheimnisse um Gagarin.

Ich habe mich daraufhin durch rund 10.000 Seiten Archivmaterial und Augenzeugenberichte gearbeitet und so letztlich wohl die allermeisten noch verbliebenen „weißen Flecken“ tilgen können. Wer wusste schon, dass Gagarin gar nicht dort landete, wo er eigentlich landen sollte und der Flug nur 106 statt 108 Minuten dauerte? Dass sein erstes Gespräch nicht mit der Kolchosbäuerin Anna Tachtarowa und deren Enkelin Rita stattfand, sondern mit Soldaten, dass Gagarin ein gläubiger Mensch und Taufpate einer Nichte war und sich für den Wiederaufbau unter Stalin zerstörter Kirchen einsetzte? Dass seine Schwester Soja Repressalien ausgesetzt war, weil sie aus deutscher Kriegsgefangenschaft floh, und dass Gagarin als Konsequenz daraus seine Biografie manipulierte? Ich könnte diese Aufzählung noch fortsetzen.

Einiges davon wollte seine Mutter Anna Timofejewna, die sich übrigens im Kreml vom russischen Patriarchen segnen ließ, während  Breshnew ihrem Sohn den Goldenen Stern eines „Helden der Sowjetunion“ an die Brust heftete, schon vor ihrem Tode 1984 in ihrem Buch mitteilen. Doch selbst sie scheiterte damals an der Zensur.

Auch Gagarin wurde in diesen Lügenstrudel mit hineingezogen. Er versuchte aber immer wieder, sich mit ausweichenden Antworten aus der Affäre zu ziehen. Seine Witwe Walentina, die mit der ganzen Familie am Sonntag das Grab ihres Mannes an der Kreml-Mauer besuchen wird, kommentierte das auf meine Frage mit den Worten: Mögen jene, die Lügen über ihn verbreitet haben, das mit ihrem Gewissen abmachen.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn es doch noch zu der seit langem geforderten internationalen Untersuchungskommission käme, die den Absturz Gagarins noch einmal mit den modernsten technischen und wissenschaftlichen Mitteln unter die Lupe nehmen könnte. Die materiellen Zeugen der Katastrophe liegen in Gestalt der Flugzeugreste in schwarzen Fässern verschweißt im Keller eines Militärobjektes vor den Toren Moskaus.

Doch die Regierung ist an einer solchen Untersuchung nicht interessiert, die übrigens auch von Walentina Tereschkowa befürwortet wird, die heute eine glühende Parteigängerin Putins ist. Somit begibt man sich der Chance, auch noch das allerletzte Geheimnis um Gagarin zu lüften und dieses ruhmlose Kapitel sowjetischer Geheimniskrämerei endgültig abzuschließen. Das hat der Kolumbus des 20. Jahrhunderts nicht verdient.

© Gerhard Kowalski