Berlin/Washington, 3. Februar 2010 — Die USA haben quasi über Nacht ihre große Liebe zur Internationalen Raumstation ISS entdeckt. In letzter Zeit hatten sie eher lustlos auf der „Baustelle des Jahrtausends“ gewerkelt. Seit dem Raumfahrtprogramm von Präsident George W. Bush galten ihre Gedanken vorrangig dem Mond, dem Mars und den noch weiter entfernten Himmelskörpern.
Doch das hat sich jetzt schlagartig geändert. Inzwischen wird das Land arg von der Krise gebeutelt, und ganz irdische Probleme wie das horrende Haushaltsdefizit und die wachsende Arbeitslosigkeit bescheren Bushs Nachfolger Barack Obama schlaflose Nächte und sinkende Popularitätswerte. Da blieb ihm nichts weiter übrig, als für das Haushaltsjahr 2011 auch die Raumfahrtausgaben auf den Prüfstand zu stellen.
Das Ergebnis schockiert die Nation: Obama streicht die für 2020 geplante bemannte Rückkehr zum Mond und damit auch das neue „Orion“-Raumschiff als Nachfolger für die Shuttles, die im Herbst eingemottet werden. Dafür wendet sich die Weltraumführungsmacht nach dem neuen Motto „Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah“ jetzt wieder ganz der ISS zu. NASA-Chef Charles Bolden sagte überschwänglich, sein Land wolle nunmehr die Station als das „nationale Labor“ nutzen, wie man das einmal angestrebt habe. Der NASA-Haushalt 2011 demonstriere die Entschlossenheit der USA, das Leben der ISS „bis 2020 und darüber hinaus“ zu verlängern. Gemeinsam mit den anderen Partnern wolle man „das Potenzial dieses großartigen Orbitallabors voll entwickeln“, in dem der Mensch „regelmäßig Dinge tut, die wir nie zuvor getan haben“. Und trotz aller Schwärmerei verliert Bolden auch die in weitere Ferne gerückte Zukunft nicht aus dem Auge: In der Station gebe es noch viel zu lernen, „bevor wir uns langfristig sicher aus dem erdnahen Orbit herauswagen können“.
Die Russen können indes ihr Glück kaum fassen. Just in dem Moment, da sie sich anschicken, den 50. Jahrestag des historischen Fluges von Juri Gagarin vom 12. April 1961 vorzubereiten und den Rückstand ihres Landes im Hightech-Bereich zur Weltspitze zu verringern, erhalten sie ungeahnte Schützenhilfe ausgerechnet aus Amerika. Der große Antipode gibt kampflos seine Vorherrschaft im All auf und beraubt sich zudem durch eine beispiellose Planungspanne der Möglichkeit, in den nächsten fünf und mehr Jahren mit eigenen Mitteln Menschen in den Weltraum zu schicken. Ein Ausstieg der USA aus dem bislang nur bis 2015 geltenden Vertrag hätte das Ende der ISS mit all seinen weitreichenden Konsequenzen für die Russen selbst, aber auch für die Europäer, Japaner und Kanadier mit ihren Milliarden-Investitionen bedeutet.
Die jähe Wende in der US-Raumfahrtstrategie verschafft den Russen eine willkommene Verschnaufpause, die sie auch dringend brauchen, um sich für die Zukunft aufzustellen. Gerade die amerikanischen Mondpläne hatten sie unter enormen Druck gesetzt. Nach 1969 drohte ihnen erneut eine Niederlage im Rennen um den Erdtrabanten. Jetzt richten sich die russischen Hoffnungen erst einmal auf den baldigen Abschluss des Vertrages über die Verlängerung der ISS-Nutzung bis mindestens 2020 beim nächsten Treffen der Partner im März in Japan. Die Raumfahrtagentur Roskosmos hofft daneben auch auf satte Verträge mit der NASA über Mitflüge in ihren „Sojus“-Kapseln und den Gütertransport in den „Progress“-Frachtern. Daneben träumen die Russen schon von einer weiteren Ausdehnung der Einsatzzeit der ISS bis 2028, sofern es ihr technischer Zustand zulässt. Gespräche darüber sollen bereits mit US-Firmen laufen.
(Material für ddp)