Von Gerhard Kowalski
Berlin, 28. November 2013 – Deutschlands einziger Dreifach-Astronaut Ulf Merbold macht sich Gedanken um die europäische Raumfahrt. „Mir fehlt da das Visionäre, die große übergreifende Idee“, sagte er mir in einem Gespräch zu seinem ersten Flug, den er vor nunmehr 30 Jahren vom 28. November bis zum 8. Dezember 1983 als erster Nicht-Amerikaner mit einem US-Space Shuttle absolviert hat. „Heute leben wir in einer Zeit des Verwaltens und nicht des Gestaltens“, fügte er hinzu. Während des Wahlkampfes und bei den jetzt abgeschlossenen Koalitionsverhandlungen habe er von keiner Partei auch nur ein Wort zu diesem Thema gehört.
Er sei allerdings überrascht, wie viel Geld die Europäische Weltraumorganisation ESA auf ihrer jüngsten Ministerratstagung trotz der Krisenerscheinungen „locker gemacht hat“. Was die unbemannte Raumfahrt angehe, sei Europa „insgesamt gut versorgt“. Die bemannte Raumfahrt dagegen sei ein „Trauerspiel“, betonte Merbold, der sein Jubiläum in einem kleinen Kreis von Freunden begehen will. „Uns fehlen Leute mit einer Vision, wie sie John F. Kennedy mit dem Mondflug hatte.“
Er begreife nicht, warum man das europäische Frachtraumschiff ATV nicht zu einem bemannten Raumschiff weiterentwickle, sagte der Astronaut. Man bräuchte es dafür doch nur mit einer Rückkehrkapsel zu versehen. Mit der Ariane 5 stehe zudem eine bewährte und leistungsstarke Trägerrakete zur Verfügung, die man nur noch für bemannte Flüge adaptieren müsste. Sicher könne man auch die Ariane 6, die jetzt stark im Gespräch sei, für solcheMissionen „tauglich machen“.
Merbold beklagte auch, dass die ESA zu wenig Informationen über die wissenschaftlichen Experimente in der Internationalen Raumstation ISS liefert, in der nach der Aufbauphase inzwischen sechs Raumfahrer ständig arbeiteten und forschten. „Es fehlen wissenschaftliche Publikationen“, kritisierte er. Er werde in nächster Zeit versuchen, bei den zuständigen ESA-Stellen Auskunft einzuholen.
Merbold, der im Januar 1992 noch einmal mit den Amerikanern und dann 1994 auch mit den Russen im All war, stammt wie Sigmund Jähn aus dem Vogtland. NVA-Oberstleutnant Jähn war 1978 im Staatsauftrag von der DDR als erster Deutscher in den Weltraum entsandt worden. Merbold, der die DDR kurz vor dem Mauerbau aus politischen Gründen verlassen hatte, wurde indes auf Eigeninitiative Astronaut. Er beteiligte sich an einer Ausschreibung, von der er aus einer Zeitung erfuhr. Der „Republikflüchtling“ half übrigens in der Wendezeit Jähn, der im Range eines Generals sang- und klanglos entlassen worden war, im geeinten Deutschland Fuß zu fassen.Er empfahl ihn für einen Beraterposten beim Vorgänger des heutigen Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) und bei der ESA. Jähn „revanchierte“ sich dafür, indem er Merbold bei seinen Vorbereitungen auf den Flug mit den Russen tatkräftig unterstützte.
30 Jahre nach seinem Weltraum-Debüt hält Merbold eine ganze Reihe von Rekorden. So ist er zwar nur zweiter Deutscher, aber erster Bundesbürger im All. Zudem war er als erster Nicht-Amerikaner mit einem US-Shuttle unterwegs. Mit seinem zweiten Flug 1992 wurde er außerdem erster deutscher Doppel-Starter. Seit seiner 32-Tage-Mission in der russischen Raumstation MIR ist er darüber hinaus der erste Dreifach-Astronaut. Und auch dieser Rekord scheint noch lange Gültigkeit zu haben, weil Deutschland angesichts der oben geschilderten Umstände im kommenden Jahr mit Alexander Gerst auf absehbare Zeit den letzten Astronauten ins All schicken kann.
© Gerhard Kowalski