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Credit: NASA

Berlin/Moskau, 7. November 2012 — Russische Experten und auch einige Kosmonauten sehen wenig Sinn in dem für 2015 geplanten Einjahresflug in der Internationalen Raumstation. Die Verlängerung der bisherigen sechsmonatigen Missionen auf ein ganzes Jahr „ist purer Aktionismus und eine pseudoinnovative Arbeit“, sagte der Ordentliche  Akademische Berater  der Akademie für Ingenieurwissenschaften der Russischen Föderation, Juri Saizew, der Nachrichtenagentur dapd in Moskau. Er reagierte damit auf die Entscheidung der ISS-Partner, einen US-Astronauten und einen russischen Kosmonauten voraussichtlich von März 2015 bis März 2016 auf einen einjährigen Testflug zu schicken, um unter anderem neue Erkenntnisse für künftige Mars-Missionen zu gewinnen.

Wissenschaftliche Mondbasis empfohlen

Nur unter „großem Vorbehalt“ könne man heute davon sprechen, dass solche Expeditionen für künftige interplanetare Reisen „wichtig“ seien. „Es ist noch zu früh, an den Mars zu denken“, sagte der Berater zur Begründung. „Am perspektivreichsten und aktuellsten wäre derzeit die Errichtung einer wissenschaftlichen Basis auf dem Mond.“ Diese könnte auch als „Zugpferd“ für die russische Wissenschaft und Industrie dienen.

Technisch wie medizinisch bereitet die Verlängerung der Missionen den Russen keinerlei Probleme. Denn anders als die Amerikaner haben sie schon Ende der 1980er Jahre in ihrer Raumstation MIR große Erfahrungen mit Einjahresflügen gesammelt. Vom 8. Januar 1994 bis zum 22. März 1995 arbeitete zudem der Arzt Waleri Poljakow knapp 438 Tage am Stück auf der Umlaufbahn. Sein Urteil: Solche Langzeitmissionen sind ohne weiteres möglich. Das Wichtigste dabei sei, den Organismus durch ständige sportliche Betätigung und Belastung der Muskeln daran zu hindern, sich an die Schwerelosigkeit zu gewöhnen.

Platz für Weltraumtouristen

Der von russischer Seite ins Spiel gebrachte Jahresflug soll nach Ansicht des Chefs der Raumfahrtagentur Roskosmos, Wladimir Popowkin, auch das bemannte nationale Raumfahrtprogramm entlasten. Denn seit Einstellung des US-Shuttle-Programms im vergangenen Jahr ruht der Personenverkehr von und zur  ISS allein auf den
„Sojus“-Raumschiffen. Doch deren Produktionskapazitäten sind bis an ihre Grenzen ausgereizt. Der Mangel an geeigneten Facharbeitern hat außerdem in jüngster Zeit wiederholt zur Verletzung der technologischen Disziplin und zur Vernachlässigung der Qualitätskontrolle geführt. Die Folge waren mehrere Havarien.

Bei Einjahresflügen müsste man zwar auch wie bisher alle sechs Monate die „Sojus“-Kapseln an der ISS austauschen, sagte Saizew. Der Kommandant  könnte dann aber statt der beiden Profi-Kosmonauten zahlende Weltraumtouristen mitnehmen. Bei einem Preis von 45 bis 50 Millionen Dollar pro Platz wäre das ein willkommenes Zubrot für die darbende Branche.

Schlechte Lebensbedingungen

Für die Kosmonauten sprechen vor allem die schlechten Lebensbedingungen im russischen ISS-Segment gegen so lange Flüge. Gennadi Padalka, der erst Mitte September von seiner dritten ISS-Mission zurückgekehrt ist, bemängelte, es habe im Vergleich zum amerikanischen nur ein einziges Wohnmodul. Dieses beherge gleichermaßen die Schlafräume, die Küche, die Toilette und die Trainingsgeräte. Die anderen Module seien mit Technik vollgestopft, kalt und laut. „Solche Umstände dürfen nicht die Norm sein“, betonte der Kosmosveteran.

Maxim Surajew sagte, er erinnere sich noch sehr gut daran, wie „zerstört “ er nach seinem Halbjahresflug auf der ISS gewesen sei. Gegen die wissenschaftlichen Perspektiven einer Jahresmission sei indes nichts einzuwenden, fügte er hinzu. „Doch bei uns auf den Fluren kursiert die Meinung, dass die Verlängerung der Flugdauer mit der Absicht zusammenhängt, Geld mit dem Weltraumtourismus zu verdienen.“

(für dapd)