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Moskau, 28. November 2011 — Nach der beispiellosen Pannenserie der letzten Monate hat in der russischen Raumfahrt die Zeit der Abrechnung begonnen. Präsident Dmitri Medwedjew nutzte am Wochenende eine Begegnung mit Regionaljournalisten in Gorki bei Moskau, um harte personelle Konsequenzen anzukündigen. Die Schuldigen für die jüngsten Fehlschläge müssten materiell, disziplinarisch oder sogar strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, sagt er. Allerdings schlage er nicht vor, „sie an die Wand zu stellen, wie bei Josef Wissarionowitsch“, fügte er nach Angaben der Nachrichtenagentur RIA Nowosti mit einer kruden Anspielung auf Stalin hinzu.
Medwedjew befürchtet, dass das Renommé seiner ohnehin angeschlagenen Wirtschaft durch die Fehlstarts zusätzlich beschädigt werden könnte. Denn diese Misserfolge beeinträchtigten stark  die Konkurrenzfähigkeit des Landes, betonte er. Devise müsse vielmehr sein, russische Erzeugnisse „durch Qualitätsbeispiele“ auch auf dem internationalen Markt zu etablieren.
Ausgerechnet im 50. Jahr des historischen Fluges von Juri Gagarin als erster Mensch ins All vom 12. April 1961 ist es zu einer ungewöhnlichen Häufung von Ausfällen bei der an sich zuverlässigen russischen Raumfahrttechnik gekommen. Ein böses Omen war bereits im Dezember vergangenen Jahres der Verlust von drei Satelliten des Weltraumnavigationssystems Glonass. Damit konnte der Ukas von Ministerpräsident Wladimir Putin nicht erfüllt werden, den Konkurrenten zum US-Counterpart GPS noch 2010 fertigzustellen. Präsident Medwedjew feuerte daraufhin einen stellvertretenden Generaldirektor der Raumfahrtagentur Roskomos und den Vize-Chef des Raumfahrtkonzerns RKK “Energija”. Der damalige Roskosmos-Generaldirektor Anatoli Perminow  erhielt eine Rüge und wurde dann auch bald in den Ruhestand geschickt.

Im Februar ging der Militärsatellit Geo-IK-2 verloren, und Anfang April verzögerte sich der Flug eines nach Gagarin benannten Sojus-Raumschiffes zur Internationalen Raumstation ISS, weil ein profaner Kondensator versagt hatte. Daraufhin musste die Reise einer ganzen Flugzeugladung russischer und internationaler VIPs, die zum Gagarin-Jubiläum eingeladen waren, zum Startplatz Baikonur (Kasachstan) gecancelt werden. Am 18. August setzte sich das Debakel fort, als ein sündhaft teurer Nachrichtensatellit nicht seine vorausberechnete Umlaufbahn erreichte. Schuld war ein Problem mit der Oberstufe. Und nur eine Woche später, am 24. August, stürzte ein Sojus-Raumschiff mit einem automatischen Progress-Frachter auf dem Weg zur ISS ab. Die dritte Trägerstufe hatte sich wegen einer verstopften Treibstoffleitung vorfristig abgeschaltet. Am 9. November schließlich erreichte die Marssonde Phobos-Grunt aus bisher noch unbekannten Gründen nicht ihre geplante Umlaufbahn. Derzeit wird weltweit versucht, Kontakt zu den Havaristen aufzunehmen.
In der vergangenen Woche hat sich auch Roskosmos gemeinsam mit Spitzenvertretern der Branche auf die Ursachensuche für die prekäre Lage gemacht. Agenturchef  Wladimir Popowkin hat dabei vor allem die heikle Personalsituation kritisch beleuchtet.  Diese sei durch eine anhaltende Überalterung der wissenschaftlichen und technischen Kader, den Weggang hochqualifizierter Spezialisten und den sinkenden Zufluss von Absolventen der Hoch- und Fachschulen gekennzeichnet.  „Wir können zu jeder Minute wissenschaftliche Schulen verlieren, die in der mehr als 50-jährigen Geschichte der nationalen Raumfahrt aufgebaut worden sind“, warnte er.
Als erste Gegenmaßnahme legte Popowkin ein sogenanntes Komplexprogramm vor, mit dem das Prestige der Mitarbeiter der Branche erhöht, neue materielle Anreize für Qualitätsarbeit geschaffen und die Ausbildung von Fachkräften konzentriert werden sollen. Ob das schnelle Abhilfe schafft,  muss abgewartet werden.Indes schwebt weiter die außer Kontrolle geratene Phobos-Grunt-Sonde als Menetekel über Russland. Und wen der Bannstrahl Medwedjews diesmal trifft, steht auch noch nicht fest. Doch man darf davon ausgehen, dass Perminows Nachfolger  Popowkin nicht ungeschoren davonkommt, zumal sein Sündenregister ungleich länger ist.
(für dapd)