Moskau, 30. Dezember 2019 — Ich kann mich nicht erinnern, dass es in meiner mehr als 50-jährigen Beschäftigung mit der sowjetischen und russischen Raumfahrt gleich zwei und zudem stark gegenläufige Jahresbilanzen gegeben hat. Doch genau das ist jetzt (am Freitag) geschehen.
Zuerst behauptete der für das Militär und die Raumfahrt zuständige stellvertretende Ministerpräsident Juri Borissow in einem TV-Interview, der einzige Erfolg in der Bilanz sei, dass es bei den Weltraumstarts zu keinen Havarien wie in den Vorjahren gekommen sei. Allerdings sei das geplante Startprogramm auch nur ein bisschen mehr als zur Hälfte erfüllt worden.
Borissow kritisierte zudem, dass die Weisung von Präsident Wladimir Putin, die militärische Satellitenflotte zu erneuern, nicht befolgt worden und das neue Kosmodrom Wostotschny im Amur-Gebiet erst zu 30 Prozent fertig sei. Deshalb müsse in der Raumfahrtbranche „Ordnung“ geschaffen werden. Das erfordere eine systematische langfristige und akribische Arbeit sowie die Heranbildung professioneller Kader, von denen es heute auf allen Ebenen zu wenig gebe. Der Vizepremier kündigte an, dass man Putin bis zum 20. Januar Rapport erstatten werde.
Offenbar ohne die sonst übliche Abstimmung „mit oben“ veröffentlichte die GK Roskosmos kurz danach auf ihrer Homepage eine makellose Erfolgsbilanz, in der alle einzelnen Aktionen minutiös aufgelistet werden. So habe man im ablaufenden Jahr die Umsetzung der früher beschlossenen Pläne und Aufgaben fortgesetzt. Die Tatsache, dass es keine Havarie gegeben habe, sei der Erhöhung der Qualität der Trägerraketen und der aufopferungsvollen Arbeit aller Beschäftigten der Branche zu verdanken. Zum Schluss wird versichert, dass auch 2020 alle Aufgaben, die der GK Roskosmos übertragen wurden, erfüllt werden. Von Selbstkritik oder Problemen keine Spur.
Kurze Zeit später reagierte GK Roskosmos-Generaldirektor Dmitri Rogosin noch in einem TASS-Interview auf die harsche Kritik Borissows. Dabei verwies er darauf, dass das Startprogramm schlichtweg nicht erfüllt werden konnte, weil sowohl die OneWeb– als auch die einheimischen militärischen Satelliten nicht rechtzeitig fertiggestellt worden seien. Allein bei OneWeb seien dadurch acht Starts ausgefallen.
Damit wiederholt sich quasi die Situation von Mitte 2018. Damals hatte Borissows Vorgänger Rogosin dem damaligen GK Roskosmos-Chef Igor Komarow vorgeworfen, dass es in der Raumfahrtbranche eine „Systemkrise“ gebe. Zudem gab er ihm Hinweise, wie diese Krise zu überwinden sei. Putin entließ daraufhin Rogosin als Vizepremier und machte ihn zum GK Roskosmos-Chef, weil der in dieser Funktion seine „Impulse“ am besten umsetzen könne.
© Gerhard Kowalski