Es ist die bisher detaillierteste Biografie, die ich zu Juri Gagarin in der Hand hatte. In seinem neuen Buch zum ersten Kosmonauten der Welt Juri Gagarin: Ein Flug und das ganze Leben hat der St. Petersburger Raumfahrtschriftsteller Anton Perwuschin eine Fülle von neuen Informationen zusammengetragen, die weit über das hinausgehen, was er bisher in seinen vielen vorangegangenen Werken schon zu diesem Thema veröffentlicht hat.
Das Neue ist dabei aber weniger die Auswertung von Dokumenten, die nach wie vor nur spärlich aus den unterschiedlichsten Geheimarchiven freigegeben werden, wenn auch das schon eine Sisyphusarbeit ist, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Überrascht hat mich vor allem, dass sich Perwuschin erstmals der Mühe unterzogen hat, die bisherige Literatur seines Landes zu Gagarin kritisch zu hinterfragen und zu analysieren.
„Die Geschichte der sowjetischen Raumfahrt ist gefälscht“ lautet der erste überraschende Satz von Perwuschins Vorwort zu seinem 670-Seiten-Werk. Wer jetzt voreilig daraus schließt, der Autor sei ein „Nestbeschmutzer“ oder gar Dissident, irrt sich gewaltig. Der Autor beklagt vielmehr, dass das bisher „großartigste wissenschaftlich-technische Projekt der Sowjetunion, das den Gang der Zivilisation verändert hat“, bisher nur unzureichend aufgearbeitet wurde und damit „unsinnige Gerüchte“ und „dilettantische Diskussionen“ provoziert habe.
Der Autor führt dafür drei Gründe an, die in der Kürzestfassung lauten:
- Die Strategie der Geheimhaltung von Einzelheiten, die die militärpolitische Tätigkeit in der Zeit des Kalten Krieges betrafen;
- die Politik des Verschweigens von Problemen und Fehlern, die in der Mitte der 1930-er Jahre zur Tradition wurde, und den
- Konkurrenzkampf der unterschiedlichen „Clans“ innerhalb der Raketen- und Raumfahrtbranche.
Dadurch seien Hunderte von höchst interessanten Projekten, so die Mond- und Marsprogramme, aus der Geschichte „herausgefallen“, die aber „das Gesicht der realen Raumfahrt“ geprägt haben.
Auch die Biografie Gagarins sei von solchen Fälschungen nicht verschont geblieben, schreibt Perwuschin in seinem 2017 erschienenen Buch. Dabei zeige sich eine klare Grenze zwischen „zwei Masseninterpretationen“ – einer sowjetischen und einer postsowjetischen. Die sowjetische, in der eine „grausame Zensur“ es Gagarin nicht einmal erlaubt habe, öffentlich über sein Raumschiff oder über seine Kosmonautenkameraden zu sprechen, ende im April 1991 mit dem 30. Jahrestag seines historischen Fluges.
Die postsowjetische Masseninterpretation beginne 1992 mit dem Übergang von der „Diktatur der Ideologie“ zur „Diktatur des Marktes“, als viele Journalisten und Autoren „sensationellen Einzelheiten“ den Vorzug vor Fakten gaben, obwohl immer mehr Geheimdokumente freigegeben wurden, beklagte Perwuschin. Er belegt das an zahllosen Beispielen, darunter in Büchern zu Gagarin, deren Text im Zuge von Neuauflagen immer wieder nach den gegebenen Umständen „aktualisiert“ wurde.
Perwuschins verdienstvolle Forschungen sind (trotz der anderslautenden Behauptungen im Buch-Titel) ganz offenbar noch nicht abgeschlossen. So ist er auch nicht auf die jüngsten „Enthüllungen“ etwa von Alexej Leonow zum Tod von Gagarin eingegangen, bei denen Präsident Wladimir Putin eine wichtige Rolle spielt. Ich bin deshalb auf die Fortsetzung gespannt.
Juri Gagarin : Ein Flug und das ganze Leben. Die vollständige Biografie des ersten Kosmonauten des Planeten Erde
Verlag Palmira, Sankt Petersburg 2017
ISBN 978-5-521-00287-0
© Gerhard Kowalski