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Credit: IMBP
Credit: IMBP

Moskau, 3. Juni 2010 —  In Moskau hat am Donnerstag das Marsflug-Zeitalter begonnen – vorerst allerdings nur virtuell. Sechs Freiwillige aus vier Ländern haben sich auf einen  simulierten 520-Tage-Flug zum Roten Planeten gemacht. Um 12.00 Uhr deutscher Zeit schloss  sich die schmale Eingangstür der Versuchsanlage im Institut für Medizinisch-Biologische Probleme (IMBP) hinter den drei Russen sowie je einem Franzosen, Italiener und Chinesen.  Eineinhalb Jahre lang werden die Männer ohne Internet, Fernsehen und Radio völlig  abgeschnitten von der Außenwelt in dem engen Röhrensystem unter nahezu realen  Weltraumbedingungen arbeiten und leben. Lediglich die Schwerelosigkeit und die kosmische Strahlung fehlen. Der Funkverkehr unter dem Codenamen „Kepler“ vollzieht sich mit 40-minütiger Laufzeit.

 
Ziel des Langzeitexperiments, das sich auf 150 Tage Hin- und 140 Tage Rückflug sowie 30  Tage Marsaufenthalt unterteilt, ist das Studium der Gruppendynamik „Mensch – Umwelt“ und  die Gewinnung experimenteller Daten über den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit  von Menschen in der Isolation und unter den Besonderheiten eines Marsfluges. Der steht in  der Realität allerdings frühestens in 25 Jahren an. Für Bernd Johannes vom DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin ist die internationale Besatzung ein idealer  Forschungsgegenstand. Mit einem drahtlosen Messsystem will er das Verhalten der Gruppe untersuchen. Ein Sensor zeichnet dabei auf, wer wie lange in wessen Nähe war. „Wer häufig nebeneinander hockt, kann sich unmöglich nicht leiden“, sagte der Wissenschaftler.
 
Das „Mars-Raumschiff“ hat fünf Module mit einem Gesamtrauminhalt von 1750 Kubikmetern. Davon entfallen aber nur 450 Kubikmeter auf den eigentlichen Lebensraum: jeweils 100 Kubikmeter auf das  Wohnen und die medizinische Abteilung sowie 250 Kubikmeter auf das Lager nebst Gewächshaus, das die Bordküche mit ihren Fertiggerichten um frische Kräuter, Tomaten und Zwiebeln bereichert. Die Imitation der Marsoberfläche nimmt mit 1200 Kubikmetern den größten Raum ein, hinzu kommt das Landemodul mit 50 Kubikmetern. Als Privatsphäre, in der sie gänzlich unbeobachtet sind, bleibt den Kandidaten lediglich eine Grundfläche von drei  Quadratmetern. Für die Strapazen werden sie aber mit je
80 000 Euro belohnt.
 
Zwei der Russen sind Ärzte – Suchrob Kamolow (32) Chirurg, sein Landsmann Alexander  Smolejewski (33) Allgemeinmediziner. Sie hoffen, dass niemand ernsthaft krank wird, denn  das wäre der einzige Grund, um das Experiment für den Betreffenden zu beenden. Der Chinese  Wang Yue (27) gibt als Berufsbezeichung „Forscher“ an, der dritte Russe und Expeditionschef Alexej Sitjew (38), der Italiener kolumbianischer Abstammung Diego Urbina (27) und der Franzose Romain Charles (31) sind Ingenieure.
 
Dem Sextett stehen nicht nur rund 100 Experimente in den Bereichen Psychologie und Psychophysiologie, klinische und Labordiagnostik, Physiologie, Mikrobiologie sowie Technologie bevor. Es muss auch viele normale und anormale Flugaufgaben lösen und brenzliche Situation überstehen, die in das Flugprogramm eingebaut ist, so Havariefälle.  Alle Männer müssen zudem die Kopplungstechnik beherrschen, aber nur drei das Landemodul für den Abstieg aus der Marsumlaufbahn auf die Planeten.
 
Deutschland stellt zwar bei „Mars 500“ keinen eigenen Kandidaten, doch mit Oliver Knickel, der an einem 105-Tage-Vorversuch 2009 teilgenommen hat, einen kompetenten Berater. Dafür ist die Industrie unter den knapp 20 internationalen Sponsoren und Partnern stark vertreten. So stehen 56 Gerichte eines Unternehmens (apetito AG) aus dem nordrhein-westfälischen Rheine auf dem Speiseplan – von Lachsfilet über Schweinelendchen bis zur Currywurst. Die Speisen wurden gemeinsam mit der Uni Erlangen zusammengestellt. Die Wissenschaftler nutzen die  Isolation der Männer, um neue Erkenntnisse über den menschlichen Salz- und Wasserhaushalt zu gewinnen. “Wir möchten feststellen, ob sich unser
Eindruck bestätigt, dass eine Reduzierung der täglichen Salzzufuhr geeignet ist, den menschlichen Blutdruck nachhaltig zu senken“, sagte Projektleiter Jens Titze. Ein anderes Unternehmen (Medisana AG aus Hilden) liefert medizinische Geräte zur Überwachung von Körperfunktionen sowie für die Massage- und Schmerztherapie.
 
(für ddp)