Moskau, 19. Mai 2015 — Vor dem Hintergrund von drei schweren Havarien in den vergangenen drei Wochen hat Vizepremier Dmitri Rogosin am Dienstag vor dem Parlament in Moskau schonungslos die Schwächen der russischen Raumfahrt benannt. Bei der Vorstellung eines Gesetzentwurfs von Präsident Wladimir Putin zur Überwindung der Krise in der einstigen Vorzeigebranche sagte er vor der Staats-Duma, die US-Raumfahrt sei neunmal effektiver als die russische. Als Beispiel führte er an, dass das private amerikanische Raumfahrtunternehmen Orbital Sciences mit 1.300 Mitarbeitern 13-mal weniger Beschäftigte habe als der russische „Chrunitschew“-Konzern, die Leistung je Mitarbeiter dort pro Jahr aber fast 414.000 Dollar betrage.
Wenn sich diese Situation nicht ändere, werden die Starts mit russischen Trägerraketen bald teurer sein als die der westlichen Konkurrenten, warnte der Politiker. Derzeit entfielen noch mehr als 40 Prozent der weltweiten Starts auf russische Träger. Doch damit könne es sehr bald vorbei sein.
Die Umsetzung der ambitionierten Aufgaben der neuen Staatskorporation Roskosmos, in der alle Kräfte der Raketen- und Raumfahrtbranche zur Überwindung der Krise gebündelt werden sollen, erfordere die Beherrschung der digitalen Produktion, die Robotisierung der Technologie, die Verringerung der Selbstkosten und die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, sagte Rogosin. Unter Hinweis auf die sieben Havarien mit Proton-Raketen in den vergangenen fünf Jahren fügte er hinzu, es sei eine Sache der Ehre, hier die „Konstruktionskrankheit“ herauszufinden und zu heilen.
Der Vizepremier unterstrich zugleich die Notwendigkeit, die bemannte Raumfahrt ungeachtet der hohen Kosten weiter zu entwickeln. Derzeit entfalle ein Drittel des Ausgaben auf das bemannte Programm. Doch da gebe es kein Zurück mehr. „Das ist eine Geschichte, die fortgesetzt werden muss.“ Derzeit würden die Grundlagen für die perspektivische Entwicklung der bemannten Raumfahrt gelegt, unter anderem durch den Bau eines neuen bemannten Raumschiffes als Sojus-Nachfolger, des neuen Kosmodroms Wostotschny im Amur-Gebiet und einer neuen schweren Angara-Rakete.
Auch stehe die Aufgabe, eine neue nationale Raumstation zu bauen, für die auch die anderen BRICS-Staaten Brasilien, Indien, China und Südafrika gewonnen werden sollen. Noch in dieser Woche würden Präsident Putin die Pläne für die Entwicklung der bemannten Raumfahrt unterbreitet.
Einer der Gründe für den Absturz der Proton-M-Rakete mit einem mexikanischen Telekommunikationssatelliten vom Wochenende und eines Sojus-Trägers mit einem Progress-Frachter am 8. Mai seien die niedrigen Löhne in der Branche, betonte Rogosin, der in der Regierung für das Militär und die Raumfahrt zuständig ist. „Den Leuten muss ein angemessener Lohn gezahlt werden.“ Im Staatskonzern Rosatom beispielsweise laufe alles normal, weil dort die jungen Spezialisten mehr als er selbst als Vizepremier erhielten. Bei Chrunitschew hingegen verdienten die jungen Leute, die aus dem gesamten weiten Einzugsgebiet von Moskau stammen und in Gemeinschaftsunterkünften leben, gerade einmal 25.000 Rubel – etwa 465 Euro. Wenn dieser Lohn nicht angehoben werde, „werden wir keine Qualität bekommen“.
Zudem beklagte Rogosin den „moralischen Verfall“ der Unternehmensführungen in der Branche. Angesichts dieses Verfalls brauche man sich nicht über die hohe Fehlerquote zu wundern. Die „kosmischen Chefs“ befänden sich schon lange in ihrem eigenen „Kosmos“. Er hoffe, das die „Gravitation des Gesetzes“ sie dorthin bringe, wo sie hingehörten.
Der Vizepremier zeigte sich überzeugt, dass der neue Staatskonzern Roskosmos in allen Unternehmen der Branche eine strenge Kontrolle durchsetzen werde. Zudem deutete er an, dass man in jenen Betrieben, die nicht voll in Staatsbesitz sind, künftig auch „erfolgreichen Privatfirmen“ die Möglichkeit geben wird, dort tätig zu werden.
(c) Gerhard Kowalski